ERDRUTSCH IN FRANKREICH: RECHTSNATIONALE JUBELN, MACRONS LAGER „PRAKTISCH AUSGELöSCHT“

Nach dem Erdbeben folgt in der Regel das Nachbeben. Das ist die Metapher, die der französische Wahlforscher Pascal Perrineau bemüht hat, um auf die Wahlergebnisse der ersten Runde der französischen Parlamentswahlen vorzubereiten. Bereits die ersten Hochrechnungen am Sonntagabend belegten, dass sich der historische Siegeszug von Marine Le Pens Partei Rassemblement National (RN) weiter fortsetzt, während Emmanuel Macrons Wahlbündnis „Gemeinsam für die Republik“ große Verluste eingefahren hat.

Nun liegt auch das offizielle Endergebnis nach der ersten Runde der vorgezogenen Parlamentswahl in Frankreich vor. Der rechte Rassemblement National (RN) ist als stärkste Kraft hervorgegangen. Die Partei von Marine Le Pen erhielt zusammen mit ihren Verbündeten laut dem am Montag veröffentlichten offiziellen Endergebnis 33 Prozent der Stimmen. Auf Platz zwei landete demnach das Linksbündnis mit 28 Prozent. Das Mitte-Lager von Präsident Emmanuel Macron kam bei der Abstimmung am Sonntag auf 20 Prozent. Das teilte das Innenministerium in Paris mit.

Video: Rechtspopulisten gewinnen erste Wahl eindeutig

Die Sitzverteilung in der Nationalversammlung entscheidet sich erst nach der zweiten Wahlrunde am kommenden Sonntag. Schon jetzt deutet vieles darauf hin, als werde sich das Kräfteverhältnis zwischen Macrons liberaler Mitte und Le Pens rechtsnationalem Block genau umkehren. Ob es für den RN für eine absolute Mehrheit von 289 von 577 Sitzen reicht, ist ungewiss. Sollte das der Fall sein, wird Macron Le Pens politischem Ziehsohn Jordan Bardella das Amt des Regierungschefs anvertrauen müssen. Es käme zu einer sogenannten Kohabition. Der 28-jährige Bardella sagte, er werde die Berufung bei einer relativen Mehrheit ablehnen. Doch ab einer Zahl von 270 Sitzen geht der Parteichef des RN davon aus, weitere Abgeordnete der konservativen Opposition abwerben zu können, um auf eine absolute Mehrheit zu kommen.

Hohe Wahlbeteiligung führt zu Dreieckswahlen

Dass die Mehrheit der Franzosen diese Wahl als unerhört, ja historisch empfindet, zeigt die Wahlbeteiligung von 67 Prozent. Vor zwei Jahren, bei den regulären Wahlen zur Nationalversammlung, betrug sie in der ersten Runde lediglich 47 Prozent. Durch die hohe Wahlbeteiligung kommt es im zweiten Durchgang am 7. Juli zu zahlreichen Dreieckswahlen. Früher war die Regel, dass sich in solchen Fälle, wenn drei Kandidaten weiterrücken, der am schlechtesten gestellte zurückzieht, um den Sieg des RN-Kandidaten zu verhindern. Die linkspopulistische Partei La France Insoumise von Jean-Luc Mélenchon kündigte am Wahlabend an, auch diesmal dem RN „nirgendwo einen Sieg zu ermöglichen“, doch ob andere Parteien diesem Beispiel folgen, ist noch fraglich. Verlässlichere Voraussagen lassen sich deshalb erst am Dienstagabend machen, wenn feststeht, wer antritt.

Staatschef Macron und seinen Anhängern dürfte vor allem die überraschende Einigkeit des linken Lagers, das laut Prognosen auf 125 bis 200 Sitze im Unterhaus kommt, zum Verhängnis geworden sein. Mehrfach hatte er zur Zusammenarbeit gegen die Extreme aufgerufen. Jedoch schlossen sich weder die konservativen Républicains noch Sozialisten oder Grüne für die Wahl mit ihm zusammen. Er rief angesichts des Wahlsiegs der Rechtspopulisten umgehend zu einem „breiten, demokratischen und republikanischen Bündnis“ auf. Die hohe Wahlbeteiligung in der ersten Runde zeuge von der „Bedeutung dieser Wahl für alle unsere Landsleute und von dem Willen, die politische Situation zu klären“, betonte der Präsident. „Ihre demokratische Wahl verpflichtet uns“, fügte er hinzu.

Rückzug von 60 Kandidaten des Regierungslagers

Frankreichs Premierminister Gabriel Attal kündigte unterdessen den Rückzug von rund 60 Kandidaten des Regierungslagers in der zweiten Wahlrunde an. Dies solle den Sieg rechtspopulistischer Kandidaten verhindern, sagte er Sonntagabend in Paris. „Keine Stimme darf an den Rassemblement National gehen“, betonte Attal.

Für die Rechtspopulisten kommt der Zeitpunkt des Sieges dagegen überraschend. Le Pen hatte eigentlich die Präsidentschaftswahlen 2027 im Auge. Sie dürfte sich darüber bewusst sein, dass die größte Gefahr jetzt darin besteht, sich in drei Jahren an der Macht als unfähig zu erweisen und zu desavouieren, womit die Präsidentschaft, um die sie sich seit 2012 bewirbt und die zum Schluss so greifbar schien, unerreichbar werden würde.

Macrons Lager „praktisch ausgelöscht“

Die Ex-Parteichefin des RN, Marine Le Pen, rief ihre Anhänger dazu auf, ihrer Partei in der nächsten Runde eine „absolute Mehrheit“ zu verschaffen. Macrons Lager sei „praktisch ausgelöscht“, erklärte Le Pen, die in ihrem Wahlkreis im Norden bereits im ersten Wahlgang gewählt wurde.

RN-Parteichef Jordan Bardella sieht sich bereits als künftiger „Premierminister aller Franzosen“, falls seine Partei die absolute Mehrheit bekommen sollte. Er werde „verfassungstreu, aber unnachgiebig“ sein, kündigte er an. Die zweite Runde werde „eine der wichtigsten Wahlrunden in der Geschichte“ der 1958 gegründeten Fünften Republik sein, sagte der 28-Jährige.

Der umstrittene Vorsitzende von Frankreichs konservativer Partei Les Républicains, Éric Ciotti, rief alle Konservativen auf, sich seinem viel kritisierten Schulterschluss mit dem RN anzuschließen. „Heute Abend ist der Sieg in Sicht“, sagte Ciotti nach dem starken Abschneiden des RN und der Républicains-Kandidaten, die sich mit Ciotti für eine Unterstützung des RN entschieden hatten. „Die historische Union, die wir mit Jordan Bardella aufgebaut haben, hat langen Jahren der Unbeweglichkeit der Rechten ein Ende gesetzt“, so Ciotti weiter. „Dieses Ergebnis ist ein großer Erfolg. Die Franzosen haben mit ihren Stimmen ihren Wunsch nach Veränderung und Wechsel zum Ausdruck gebracht.“

Kundgebungen und Protestmärsche

Noch am Abend demonstrierten Tausende Menschen gegen die extreme Rechte. In Paris versammelten sich die Demonstranten nach einem Aufruf des neuen Linksbündnisses auf dem Place de la République. Auch führende Linkspolitiker schlossen sich dem Protest dort an. Auch in Nantes, Dijon, Lille und Marseille kam es zu Kundgebungen und Protestmärschen. In Frankreichs drittgrößter Stadt Lyon kam es nach Medienberichten zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei. Barrikaden wurden errichtet und Beamte mit Flaschen und Feuerwerkskörpern beworfen. Auch einige Schaufenster gingen zu Bruch.

Für die Verteilung der 577 Sitze der Nationalversammlung wird es entscheidend sein, ob und wie viele Kandidaten sich in der zweiten Wahlrunde zurückziehen, um etwa den Sieg eines RN-Kandidaten zu verhindern.

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