10.000 TäGLICHE SCHRITTE IN WIEN: WARUM DAS ZU EMPFEHLEN IST

Es ist stets interessant, sich zu vergegenwärtigen, was es alles braucht, um eine Stadt am Laufen zu halten. In der weit­gespannten Verwaltungsarchitektur von Wien trifft man zum Beispiel auf die Magistratsabteilung 41, die Stadtvermessung. Die MA 41 hat einen eminenten Gebrauchswert.

Sie macht sich nützlich, indem sie (ich zitiere aus ihrem Leistungsbericht) Geodaten von Wien zur Verfügung stellt, vermessungstechnische Aufgaben erledigt, die innerhalb der Stadtverwaltung anfallen, und, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, beim Ausbau der U2 und U5 "die Kontrollvermessung von 75.000 Setzungsbolzen" durchführt. Das klingt nach einer nicht nur imposanten, sondern auch sehr verantwortungsvollen Tätigkeit. Wer möchte schon mit einer U-Bahn fahren, bei deren Setzungsbolzen es hapert.

10.000 Schritte

Bei der professionellen Stadtvermessung geht es naturgemäß um die haargenaue Bestimmung von Distanzen, um die ­exakte Anzahl von Kilometern, Metern, Millimetern, quasi um die vermessungstechnische Hartwährung. Im Gegensatz dazu kann sich ein Stadtflaneur wie ich emotionale Spompanadeln leisten und subjektive Distanzerlebnisse kultivieren. Ich weiß, wovon ich spreche, über Wiener Distanzen braucht mir niemand etwas zu erzählen. Seit vielen Jahren koste ich Wien schrittweise aus und absolviere ein wöchentliches Minimum von 53 Gehkilometern. Die kommen zuverlässig zusammen, wenn ich durchschnittlich 10.000 Schritte pro Tag auf den Beinen bin.

Ich kann den Zeitvertreib der schrittweisen Erkundung städtischer Distanzen – manche sagen auch Zu-Fuß-Gehen dazu – nachdrücklich empfehlen. Man macht Erfahrungen, die einem mit anderen Fortbewegungsmedien versperrt bleiben: Fahr eine Zeitlang ausschließlich mit dem Auto, dieser populärsten aller Raumüber­brückungskrücken, durch die Gegend, und du wirst nicht mehr ermessen können, wie lange zwei, drei, vier, zehn oder zwanzig Kilometer wirklich sind.

Stadtexpeditionen

Nichts vermittelt ein besseres Gefühl für die räumliche Ausdehnung von Wien, als die Stadt einmal zur Gänze zu Fuß umkreist zu haben. Für mich war dieses Erlebnis so befriedigend, dass ich gleich nach der ersten Umkreisung eine zweite in Angriff nahm. Gut, wir sprechen hier von seriöseren Entfernungen (120 Kilometer misst der Rund­umadum-Weg), aber die Gesamt­expedition lässt sich problemlos in Teilstrecken portionieren.

Distanzen erlebt man subjektiv. Manche Wege sind kurz, aber entnervend, weil man sie Tag für Tag durchmessen muss, um zum Bäcker, zum Supermarkt, zur nächsten U-Bahn-Station zu kommen. Man fühlt den Wiederholungszwang und ist nicht immer mit dem passenden Sinn fürs Repetitive versehen. Dann können selbst läppische drei- oder vierhundert Meter einen Eindruck von Länge vermitteln. Es "zieht sich", wie es so schön heißt. Andere Kurzstrecken – sagen wir, ein Auf- oder Abstieg über die Strudlhof­stiege – sind so pittoresk, dass ich nicht genug von ihnen bekommen kann.

Handke in Wien

Und dann gibt es die Langstrecken. Wenn man die Apperzeptionsfähigkeit und die Ausdruckskraft eines Peter Handke besitzt, dann lässt sich mit der Schilderung eines Ausflugs von Paris in die Picardie – überwiegend per pedes, versteht sich – ein 600-Seiten-Roman verfassen: Die Obstdiebin ist so einer. Um sich an Langstrecken an der Peripherie, eines von Handkes liebsten Betätigungsfeldern, gütlich zu tun, muss man freilich nicht erst nach Paris fahren.

Ich nenne als Wiener Pendant den Telephonweg im 22. Bezirk, den ich in meditativen Stunden gelegentlich aufsuche. Von der Bus­station Kirschenallee (26a) ausgehend nimmt der Telephonweg erst einen Knick nach rechts und dann einen nach links, und das ist dann auch der letzte Knick, den der Fußgänger über eine Stunde hinweg zu Gesicht bekommen wird. Denn von hier an strebt der Telephonweg, a long and not winding road, sturheil und schnurgerade nach Norden, überwiegend an Äckern und kleinen Wäldchen vorbei und nur streckenweise von menschlichen Siedlungen (bis zu Hausnummern über der 400er-Grenze) gesäumt.

Existenzielle Themen

Ein Hauch von Ewigkeit weht einen an, wie auf jeder der endlosen Straßen dieser Welt, die scheinbar ins Nir­wana münden. Die meditative Stimmung wird nur dadurch getrübt, dass man mangels eines Trottoirs immer wieder auf einen mit Klatschmohn und Ackerwinden bewachsenen Grünstreifen hinaushüpfen muss, um auf sichere Distanz zum Autoverkehr zu kommen. Nach ungefähr 10.000 Schritten gelangt man dann ans Telephonweg-Ende, dorthin, wo er poetischerweise in den Pfirsichweg übergeht. Den Telephonweg von einem Ende zum anderen abzugehen ist ein existenzielles Exerzitium, das sich niemand versagen sollte.

Und eines ist sicher: Von Touristengruppen wird man dabei nicht gestört. Denn Touristen wurden hier noch nie gesehen. (Christoph Winder, 2.7.2024)

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