„TATORT“ AUS BERLIN: HINTERHER IN DIE WASCHSTRAßE

Für eine Reihe, die „Tatort“ heißt, verbringen die Ermittler in der Regel erstaunlich wenig Zeit am Schauplatz eines Verbrechens. Der neue Fall aus Berlin, der zweite mit Susanne Bonard (Corinna Harfouch) an der Seite des altgedienten Robert Karow (Mark Waschke), macht das anders. Fast zwanzig Minuten bleibt er im Haus eines toten Mannes, schaut sich um und tastet sich vor.

Und das sind derart unheilschwangere zwanzig Minuten, dass man den Drehbuchautorinnen Josefine Scheffler und Mira Thiel für die anschließende Szene, in der es zur Seelenreinigung in eine Waschstraße geht und die Ermittler auf Seifenströme und Waschbürsten starren, einfach nur dankbar sein muss. Weg mit den Bildern im Kopf. Weg mit dem blutigen Werkzeug, das sich im Keller fand und darauf hindeutet, dass hier noch vor wenigen Stunden jemand eingesperrt war.

Tarnung als Bügelkrimi

Das Hinterhältige der „Tatort“-Episode „Am Tag der wandernden Seelen“ ist seine anfängliche Tarnung als Bügelkrimi. Zwei Kinder spielen mit einer Drohne, die auf ein Nachbargrundstück stürzt und zufällig die Leiche entdeckt. Die Polizei kommt, sperrt ab und fotografiert. Was gibt es heute? „Hans Englert, 59 Jahre, ledig.“ Soso. Ein Fall wie dieser kann einen gestandenen Kommissar wie Karow nicht mehr erschüttern, und auch für Bonard, die eine Karriere als Dozentin an der Polizeischule hinter sich hat, sieht das erst mal nach recht normalem Mord aus. Woke Helikoptermamis schwätzen derweil angeregt am Gartenzaun.

Dann plötzlich: der Abgrund. Karow wagt sich mit Taschenlampe und vorgehaltener Waffe in den Keller des Hauses, und mit jedem seiner Atemzüge wird der Krimi ein bisschen fieser. Die Polizei muss den Spaten auspacken und den Garten umgraben. Die Kommissare müssen einen VHS-Rekorder auftreiben und einem weißen Kaninchen folgen, das sie in den Tunnel zu einer fremden Welt führt. Die Tierärztin Lê Müller (Mai-Phuong Kollath) ist in dieser Welt ein bekannter Name. Sie kommt aus ­Vietnam, hat schon die „Baseballschlägerjahre“, wie die Neunziger im Osten genannt werden, in Deutschland erlebt und ist offensichtlich nicht nur auf die Behandlung von Tieren spezialisiert.

Grauen, aber indirekt

Fortan kann man diesen düsteren Film durchaus einen Beitrag zum Thema Migration in Geschichte und Gegenwart nennen. Aber er ist vor allem ein Film über das Böse, das „immer noch ein bisschen böser ist, als man denkt“, und sich hier in massiver Gewalt gegen Frauen zeigt. Press play, press stop, press forward, press play, heißt es vor dem VHS-Recorder. Gellende Schreie im Ohr.

Zum Glück bildet der Film das Grauen lediglich indirekt ab. Mira Thiel, die nicht nur zum „Writers Room“ gehörte, sondern auch Regie führt, weiß auch in diesem Punkt, was sie tut. Sie erzählt straff und stringent. Und kann sich durchweg auf die bewegliche Kameraführung von Moritz Anton verlassen. Der ist in den entscheidenden Momenten stets ganz nah dran, taucht neugierig in die vietnamesische Szene Berlins ein, vergisst im Gesamtbild nicht die Ruinen der Vertragsarbeitersiedlung in Lichtenberg und setzt auch den ehemaligen Flughafen Tegel als Dienstsitz von Karow und Bonard in Szene.

Die letzten drei Berliner „Tatorte“ waren Ausnahmegeschichten: Karows Partnerin, Hauptkommissarin Nina Rubin (Meret Becker), kam im Einsatz ums Leben. Der traumatisierte Karow musste ihren Tod verarbeiten und auch noch den Tod seiner Jugendliebe Maik verkraften. In „Nichts als die Wahrheit“, einer Doppelfolge um eine rechtsradikale Verschwörung, trat die neue Kollegin Bonard an. Jetzt muss der Hauptstadt-„Tatort“ zurück in die Spur, und das gelingt schon deshalb ohne Ruckeln, weil die beiden Hauptdarsteller vollkommen bei sich sind. Der lebenskluge Familienmensch Bonard („Wie machen Sie das, wenn ein Fall Sie überfordert?“), und der abweisend-ruppige, mittlerweile arg angeschlagene Einzelgänger Karow („Vielleicht war der Herr Polizist im letzten Leben Vietnamese“), entwickeln kollegiale Sympathien füreinander, die nie aufgesetzt wirken. Sie sind spürbar vorhanden.

Sechs „Tatorte“ werde sie machen, verriet die 69-jährige Harfouch, die gerade auch in Matthias Glasners Kinofilm „Sterben“ zu sehen ist, im Gespräch mit der „Augsburger Allgemeinen“. Auf die verbleibenden Folgen kann man sich freuen. Es muss ja nicht immer so heftig sein.

Der Tatort: Am Tag der wandernden Seelen läuft am Sonntag um 20.15 Uhr im Ersten.

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