DER „NEUTRALE“ SONG CONTEST GEHöRT DER VERGANGENHEIT AN

Und nun zur Kultur: Das waren lang beruhigende Worte. Sie kündeten vom Übertritt in eine Sphäre, die, zumindest dem Anschein nach, von jener der Politik „geschützt“ war – und genau deswegen die zwanglose Reflexion politischer Inhalte ermöglichte. Wer zu den Wiener Festwochen ging, rechnete mit politischem Theater, nicht aber damit, dass die Festwochen selbst zum Politikum würden. Der Eurovision Song Contest wurde begleitet von herrlich eitlem Palaver über schrille Outfits und absurde Songtexte. Heute begleiten ihn Reisewarnungen, Boykottaufrufe und massives Polizeiaufgebot.

Der ESC findet dieser Tage im schwedischen Malmö statt, wo viele Muslime und Menschen mit palästinensischen Wurzeln leben. Eden Golan, die Sängerin, die für Israel antritt, steht seit ihrer Ankunft in der Stadt in ihrem Hotel unter Bewachung – groß ist die Angst vor gewaltsamen Übergriffen. Am Donnerstag nimmt sie am zweiten Halbfinale des ESC teil. Schon im Vorfeld gab es Gerangel um ihren Beitrag: Wie politisch ist er bzw. darf er sein? In einem offenen Brief forderte eine Reihe schwedischer Künstler gar, man sollte Israel aufgrund „brutaler Kriegsführung in Gaza“ vom Wettsingen ausschließen.

Wenn Golan es bis in die Endrunde am kommenden Samstag schafft, werden die in Malmö erwarteten Großdemos wohl weiter anwachsen, befeuert auch durch Konter-Provokationen: Vergangenen Freitag verbrannten rechte Aktivisten vor Ort (polizeilich genehmigt) einen Koran und eine palästinensische Fahne. Beim ESC selbst kann so etwas nicht passieren: Palästina-Flaggen sind dort nicht zugelassen, nur solche von teilnehmenden Ländern. Wie Israel. Was wiederum auf Kritik stößt.

Es scheint kein größeres Kulturevent mehr zu geben, das nicht Gefahr läuft, zum Brennpunkt einer Debatte zu werden.

Der Song Contest versteht sich seit jeher als dezidiert apolitische Show, die mit Tanz, Musik und Mummenschanz die Gräben zwischen den Nationen überbrücken will. Dennoch wirkt er zusehends wie das genaue Gegenteil. Ein Zeichen der Zeit: Schon beim ESC-Ausschluss Russlands nach dem Angriff auf die Ukraine war klar, dass „neutrale“ (Pop-)Kulturevents der Vergangenheit angehören.

Freilich: Die Vorstellung, Politik sei beim ESC nie Thema gewesen, ist falsch. Schon 2019 kassierte der isländische Rundfunk eine Geldstrafe, weil er zuließ, dass die Band Hatari kurz ein Palästina-Banner in die Kamera hielt. Doch die Kontroversen waren damals Ausnahmen, nicht die treibende Kraft der Berichterstattung. Inzwischen scheint es kein größeres Kulturevent mehr zu geben, das nicht Gefahr läuft, zum Brennpunkt einer Debatte, von Aktivisten gekapert oder gar zum Sicherheitsrisiko zu werden.

Die angespannte Weltlage hat den Positionierungsdruck in fast allen Gesellschaftsbereichen hochgeschraubt, TV-Spektakel und Kunstfeste sind keine Refugien mehr. Wer „Apolitisches“ will, muss zum Oldtimer-Treffen. Oder zum Töpfermarkt. Am besten ohne Fahnen.

2024-05-08T04:02:57Z dg43tfdfdgfd