LENA SCHILLINGS EU-KANDIDATUR GERäT IN TURBULENZEN

Womöglich wird der 12. April 2024 einst als jener Tag gelten, an dem die Kampagne der grünen EU-Spitzenkandidatin Lena Schilling gekippt ist – auch wenn es damals noch kaum jemand bemerkte. Ohne Zweifel ist es jener Tag, an dem ihre Kandidatur in ernste Probleme geriet.

Hinter dem Aktenzeichen 5 C 300/24i verbirgt sich nicht weniger als eine "Katastrophe", wie es mehrere grüne Abgeordnete nennen. Es handelt sich um ein Schriftstück, in dem sich die 23-jährige Klimaaktivistin vor Gericht verpflichtet, künftig eine Reihe von Äußerungen zu unterlassen. Etwa dass eine ihrer einst besten Freundinnen von deren Ehemann verprügelt werde und nach einem Übergriff eine Fehlgeburt erlitten habe. Schilling darf das nicht weiter behaupten, ansonsten muss sie dem Paar 20.000 Euro zahlen.

Als Schillings Zustelladresse wird in dem gerichtlichen Vergleich die grüne Bundespartei angegeben, vertreten wird sie durch die Parteianwältin der Grünen.

Wie kann es passieren, dass sich eine Spitzenkandidatin mitten im Wahlkampf verpflichten muss, künftig keine verletzenden Gerüchte mehr zu verbreiten? Und zwar nicht im Rahmen von politischem Geplänkel, sondern auf Betreiben einer jahrelangen Freundin?

"Spitze des Eisbergs"

Vonseiten der Grünen heißt es offiziell, Schilling habe die Äußerungen "aus Sorge um eine Freundin in ihrem engsten persönlichen Umfeld getätigt" und bedaure "die daraus entstandenen Kränkungen und war darum auch zu dem angesprochenen Vergleich bereit". Die Kosten dafür habe sie selbst übernommen, die Adresse der Grünen sei "zum Schutz Lena Schillings" auf der Unterlassungserklärung angegeben worden.

Im Umfeld der Grünen sehen einige – darunter Mandatare – diese Erklärung skeptisch. Kritikerinnen und Kritiker der jungen Spitzenkandidatin meinen, die Unterlassungserklärung sei nur "die Spitze des Eisbergs".

Andere sind sich sicher: Hier soll ein Schmutzkübel über einer jungen, erfolgreichen Frau ausgegossen werden, womöglich mit Unterstützung der politischen Konkurrenz. "Wir haben damit gerechnet, dass der Wahlkampf dreckig wird – jetzt ist es so weit", hieß es am Montag in einem internen Chat grüner Abgeordneter und Minister, nachdem DER STANDARD eine detaillierte Anfrage zu Schilling übermittelt hatte.

Weggefährtinnen warnen

DER STANDARD hatte schon vor Wochen begonnen, ergebnisoffen in der Sache zu recherchieren. Denn beide Varianten wären politisch relevant: sowohl eine orchestrierte Verleumdung von Schilling durch ihr früheres enges Umfeld als auch eine Spitzenkandidatin, die problematische Verhaltensmuster an den Tag legt.

Nach wochenlangen Recherchen und Gesprächen mit rund fünfzig Personen lässt sich feststellen, dass Schilling viele Menschen verärgert oder verletzt und einige sogar in existenzbedrohende Schwierigkeiten gebracht hat.

Personen, die einander nicht kennen und auf die Schilling in unterschiedlichen Kontexten getroffen ist, erzählen fast einhellig von ähnlichen Vorgängen: Schilling habe ein problematisches Verhältnis zur Wahrheit, spiele Personen gegeneinander aus und hinterlasse verbrannte Erde.

Dass sich die mehreren Dutzend Personen aus dem Jugendrat, der die Lobau-Baustelle besetzt hatte, in Schillings linkem Freundeskreis und nun auch im grünen Klub, mit denen der STANDARD gesprochen hat, abgesprochen haben, kann nahezu ausgeschlossen werden. Viele von ihnen wollen anfangs nicht mit Journalisten sprechen, tun das erst unter Zusicherung von Vertraulichkeit und nach einiger Bedenkzeit. Ihre Erzählungen lässt sich der STANDARD mit Dokumenten, Chats und schriftlichen Bestätigungen untermauern.

Es ist eine heikle Recherche. Viele Vorwürfe gegen Schilling berühren deren Privatsphäre oder passieren zwar im politischen Kontext, aber zwischen Freundinnen und Freunden. Dennoch sind die Ereignisse von öffentlichem Interesse.

"Es geht hier nicht um eine moralische Bewertung"

Geht es nach aktuellen Umfragen, werden mehr als eine halbe Million Menschen im Juni für die Grünen und ihre EU-Spitzenkandidatin stimmen. Mit ihrer Entscheidung, Spitzenpolitikerin zu werden, ist Schilling endgültig zur Person des öffentlichen Interesses geworden, die politische Gestaltungsmacht anstrebt und ihre Wählerschaft in Europa vertreten will. Als Spitzenkandidatin wäre es auch nur logisch, wenn sie nach der Wahl die europäische Delegation der Grünen anführen würde.

Daher ist es relevant, wie sich Schilling gegenüber Kolleginnen und Kollegen, aber auch gegenüber Medien verhält. Warum so viele Menschen aus ihrem Umfeld besorgt sind, lässt sich – neben der Unterlassungserklärung – exemplarisch an vier weiteren Fällen erzählen. Eine grüne Mandatarin formuliert es so: "Es geht hier nicht um eine moralische Bewertung von Lenas Verhalten." Es gehe um ihren Umgang mit Kolleginnen und Kollegen, Journalisten und Mitstreitern im politischen und beruflichen Kontext.

Medienunternehmen prüfte Vorwürfe

Große Probleme bereitete Schilling etwa einem Journalisten eines privaten Medienunternehmens, mit dem sie beruflich regelmäßig zu tun hatte. Gegenüber Freundinnen und Bekannten soll sie plötzlich behauptet haben, der Mann habe sie belästigt. Das drang auch zu dessen Kollegenschaft durch, die bei der Personalabteilung Alarm schlug.

Sofort soll eine interne Untersuchung eingeleitet worden sein. Für den Journalisten stand sein Job in Gefahr. Ohne zu zögern habe er aber zugestimmt, dass die Personalabteilung seine Chats mit Schilling lesen könne – und rasch sei klar gewesen, dass der Mann kein relevantes Fehlverhalten an den Tag gelegt habe.

Auf eine offizielle Anfrage sagt das Unternehmen nur: "Darüber möchten wir nicht sprechen."

In der Medienbranche sorgt das für Unsicherheit. Wie soll man damit umgehen, wenn eine Spitzenpolitikerin offenbar falsche Vorwürfe über Journalisten kolportiert?

Offenbar erfundene Affären

In einem anderen Fall soll Schilling einerseits eine Affäre mit einem bekannten Fernsehjournalisten erfunden, ihm andererseits aber auch Beziehungen mit anderen Grünen angedichtet haben. Auch das Verbreiten solcher Gerüchte ist geeignet, um den Ruf und die Integrität eines Journalisten zu zerstören.

Der Betroffene überlegte, Schilling zu klagen, entschied sich aber dagegen, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf die Sache zu ziehen.

Warum macht Schilling all das? Er habe noch nie erlebt, dass eine Kollegin freimütig so private Dinge erzähle, nonchalant schwere Vorwürfe darin verpacke und sich das dann als übertrieben oder schlicht falsch entpuppe, sagt ein Abgeordneter dem STANDARD: "Das ist nicht normal."

Rückblickend irritieren ihn und immer mehr andere aus der Partei auch die Vorfälle rund um den einzigen Rücktritt, der in dieser Legislaturperiode im grünen Parlamentsklub stattgefunden hat.

Schilling in Rücktritt eines Abgeordneten involviert

In einem Klubforum habe Fraktionschefin Sigrid Maurer damals, im Oktober 2023, erklärt, der Abgeordnete Clemens Stammler habe im Wiener Club U4 eine junge Aktivistin belästigt und einen Journalisten verletzt, der ihr helfen wollte. Stammler werde zurücktreten und in Therapie gehen, hieß es, man solle ihn bitte nicht kontaktieren.

Bei einigen Abgeordneten blieb der Eindruck zurück, Stammler habe eine Fremde bedrängt. Erst nach und nach rekonstruierten sie, dass es sich bei der angeblich Belästigten tatsächlich um Lena Schilling handelte, die schon damals als mögliche EU-Spitzenkandidatin galt. Mit Stammler pflegte Schilling vor dem Abend im U4 regelmäßig Kontakt, Chats legen ein gutes Verhältnis nahe. Sie war es auch, die ihn überhaupt zur Party eingeladen hatte. Im U4 wollte sie laut Anwesenden aber nichts mit ihm zu tun haben und sprach schlecht über ihn.

Ein Rücktritt Stammlers sei nach den Handgreiflichkeiten gegenüber dem Journalisten unvermeidlich gewesen, sagt eine Abgeordnete. Doch mit Blick auf Schillings Spitzenkandidatur wäre es fair gewesen, von ihrer Beteiligung zu wissen, sagen mehrere.

Eine erfahrene Grünen-Politikerin sagt: Schilling sei entweder nicht eingehend auf ihre Eignung geprüft worden. "Oder man hat Warnsignale ignoriert."

"Verbrannte Erde" in Teilen der Klimabewegung

Denn auch in der Klimabewegung, in der Schilling groß wurde, sind viele von der einstigen Aktivistin enttäuscht. Sie habe beim Jugendrat, dessen Sprecherin sie gewesen ist, viel verbrannte Erde hinterlassen, sagen Menschen, die dabei waren, zum STANDARD.

Minderjährige Mitstreiterinnen äußern das Gefühl, Schilling habe sie gegeneinander ausgespielt, um ihre eigene Macht zu zementieren. Eine ältere Aktivistin erzählt von ihrem Eindruck, Schilling habe das Vertrauen, das junge Menschen in sie gesetzt hatten, ausgenutzt. Von einem "mehr als hinterfragenswerten Umgang mit sehr jungen Menschen, die zu ihr aufschauen", spricht ein langjähriger Klimaaktivist. Nachdem diese Vorgänge thematisiert worden seien, habe sich Schilling vom Jugendrat und der Klimabewegung entfernt.

Die Liste an Vorwürfen, die frühere Wegbegleiter äußern, lässt sich fortsetzen; manche Dinge sind zu privat, andere nicht ausreichend belegbar. DER STANDARD hat zu allen angeführten Sachverhalten einen ausführlichen Fragenkatalog an die grüne Bundespartei und Schillings Pressesprecher übermittelt. Zu den meisten Punkten gab es aber keine konkrete Stellungnahme. Die Vorhalte wurden weder bestätigt noch dementiert, Vorgänge als "Gerüchte" oder sinngemäß als Privatsache von Schilling bezeichnet.

Die allermeisten Interviewpartner eint die Sorge über Schilling. Diese werde "verheizt", sagt jemand aus dem grünen Klub. Langjährige Freundinnen meinen, Schilling müsse ihre Probleme in den Griff kriegen, bevor sie sich so eine Aufgabe zumute. Für sie alle steht außer Frage, dass die 23-Jährige ein politisches Ausnahmetalent sei; charismatisch, engagiert und mit dem Willen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Übrig bleibt dennoch teils nicht erklärbares Verhalten, das sogar schon zu einem gerichtlichen Verfahren geführt hat. Eine langjährige gute Bekannte, die selbst politisch aktiv ist, fasst es so zusammen: "Wenn man jetzt nicht die Notbremse zieht, entsteht ein enormer Schaden: für die Grünen, für die Klimabewegung – aber vor allem für Schilling selbst." (Katharina Mittelstaedt, Fabian Schmid, 7.5.2024)

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