BEHöRDENFEHLER RUND UM TERROR IN WIEN WERDEN VOR GERICHT NEU AUFGEROLLT

Dass der amtsbekannte Jihadist etwas plante, hatte sich abgezeichnet: Der damals 20-jährige K. F. hatte sich im Sommer 2020 mehrere Tage lang mit Islamisten aus Deutschland und der Schweiz getroffen. Daraufhin hatte er versucht, Munition in der Slowakei zu besorgen.

Es waren Alarmsignale, die den Behörden bekannt waren. Das Wiener Landesamt für Verfassungsschutz (LVT) hatte das Islamistentreffen beobachtet und darüber deutsche Kollegen informiert; die slowakischen Behörden hatten wegen des Munitionskaufs beim Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) Alarm geschlagen.

Dennoch konnte K. F. am 2. November 2020 ungehindert zur Tat schreiten und ein Massaker in der Wiener Innenstadt verüben. Erst ein tödlicher Schusswechsel mit der Polizei stoppte den Attentäter. Zuvor hatte er vier Menschen, die ihm zufällig über den Weg liefen, kaltblütig erschossen: eine 44-jährige Österreicherin, einen Restaurantbesitzer mit chinesischen Wurzeln, einen jungen Mann aus Korneuburg und eine deutsche Kunststudentin, die als Kellnerin gejobbt hatte.

Deren Mutter kämpft seither um Aufklärung und Schadenersatz – und ihre Rechtsanwälte Norbert Wess, Bernhard Kispert und Lukas Bittighofer von der Kanzlei wkk law haben nun einen großen Erfolg errungen. Bittighofer dazu: "Unsere Mandantin ist erleichtert und überaus glücklich über die Entscheidung, dass endlich die gerichtliche Aufarbeitung der Verfehlungen der Behörden beginnen kann."

So entschied der Oberste Gerichtshof (OGH) Ende Mai, dass sich sehr wohl ein Gerichtsprozess mit der Frage befassen müsse, ob die Sicherheitsbehörden den Anschlag hätten verhindern können. Die ersten beiden Instanzen hatten das abgelehnt: Die Hinterbliebene habe keine Ansprüche, weil die Aufgabe der Behörden der Schutz der Allgemeinheit sei, nicht aber individueller Personen, gegen die keine konkrete Gefährdung vorlag.

Die "zentrale Aufgabe des Staatsschutzes"

Der OGH sieht das ganz anders. Der Schutz vor Terror sei die "zentrale Aufgabe des Staatsschutzes", argumentieren die Höchstrichter mit Verweis auf die Gesetzeslage. Zwar sei nicht vorhersehbar, wer Opfer eines Terroranschlags werde. Das heiße aber nicht, dass die sogenannten Individualrechtsgüter dieser Opfer, also etwa deren körperliche Unversehrtheit, nicht geschützt seien. Bei schuldhaftem Verhalten der Sicherheitsbehörden könnten somit Ansprüche auf Schadenersatz bestehen. Der OGH wird in seiner Entscheidung sogar noch deutlicher und führt aus, dass, wenn die Sicherheitsbehörden ihren gesetzlichen Aufgaben rechtswidrig und schuldhaft nicht nachkommen, Schadenersatz gefordert werden kann.

Das führt zurück zu den Monaten vor dem Terroranschlag. Die jihadistische Überzeugung des späteren Attentäters war den Behörden bestens bekannt, der in Mödling geborene Mann hatte wegen einer versuchten Ausreise nach Syrien sogar eine Haftstrafe absitzen müssen. Im Dezember 2019 war er unter Auflagen vorzeitig aus dem Gefängnis freigelassen worden.

Staatsanwaltschaft nicht informiert

Schon damals hätte das Landesamt für Verfassungsschutz eine Gefährderanalyse durchführen müssen, diese erfolgte aber erst zehn Monate später. Die darauffolgende "wertende Zusammenschau" seines Falls war laut Bericht der Untersuchungskommission zum Anschlag deshalb erst für Mitte November 2020 geplant gewesen – und damit zu spät.

Der in der Zwischenzeit erfolgte versuchte Munitionskauf und das Jihadistentreffen "waren den Behörden in ihrer Gesamtheit bekannt, im Einzelnen allerdings nur bestimmten Mitarbeitern", heißt es im Bericht weiter. Und: Beides wurde nicht an die Staatsanwaltschaft gemeldet, die daraufhin etwa eine Untersuchungshaft hätte verhängen können.

Darauf stützten sich auch die Argumente der Hinterbliebenen, erklärt ihr Anwalt Bittighofer: "Aus der Entscheidung des OGH geht nunmehr hervor, dass die Untersuchungshaft ein geeignetes Mittel gewesen wäre, um die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten des Attentäters zu schützen. Damit wurde dem Argument der Republik Österreich, es mangele an Kausalität, der Boden entzogen."

OGH: Behördenversagen muss geprüft werden

Der OGH gab ihnen recht: Es müssten Kausalität, Rechtswidrigkeit und Verschulden geprüft werden. Der Republik steht somit nun ein Mammutprozess rund um den Terroranschlag bevor, in dem wohl zahlreiche Verfassungsschützer aussagen müssen. Gegen einzelne Beamte war sogar ermittelt worden, allerdings ohne Folgen.

Nach langem Ringen um den Umgang mit Hinterbliebenen hatte das Sozialministerium mit Unterstützung der Finanzprokuratur, der Anwältin der Republik, bereits einen Fonds für die Opfer des Terroranschlags eingerichtet. Dieser zahlte mehr als 1,6 Millionen Euro aus. Auf diesen Fonds verweist Wolfgang Peschorn, Präsident der Finanzprokuratur, auf Anfrage des STANDARD. Mit der Einrichtung des Terroropferfonds habe die Republik ja die Absicht gehabt, Betroffenen langwierige Gerichtsverfahren zu ersparen und genau jene Schäden zu ersetzen, die vor Gericht geltend gemacht werden könnten. Vor Gericht werde nun auch zu verhandeln sein, ob der Hinterbliebenen, die das OGH-Urteil angestrebt hat, Ansprüche über den Terroropferfonds hinaus zustünden, sagt Peschorn.

Deren Anwälte verweisen darauf, dass nicht alle Ansprüche abgegolten werden und unklar sei, ob der Fonds zeitlich begrenzt sei. Wess, der unter anderem auch René Benko und Sophie Karmasin vertritt, gab an, er freue sich für die Opfer des Anschlags und deren Angehörige "über die Klarheit und Deutlichkeit" des OGH: "In mehreren Fallvariationen wurde dargelegt, warum die Republik Österreich wegen der Verfehlungen im Vorfeld des Terrorattentats zur Haftung herangezogen werden kann." Er sehe die Erfolgschancen "sehr positiv". (Fabian Schmid, 4.7.2024)

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