ADULTISMUS: KINDER ALS BüRGER ZWEITER KLASSE

Kinder darf man sehen, aber nicht hören.“ Ein Spruch aus lang vergangenen Zeiten, könnte man meinen. Ursprünglich von einem Augustinermönch im 15. Jahrhundert geprägt, galt er früher als Leitsatz für gute Erziehung. Mittlerweile hat sich viel verändert: Moderne Erziehungsstile berücksichtigen die Bedürfnisse von Kindern, und die UNO hat Kinderrechte in ihre Charta aufgenommen. Dennoch hält sich die Vorstellung, dass Kinder im öffentlichen Leben stören, hartnäckig in vielen Köpfen. Hotels und sogar Fluglinien werben mit Angeboten nur für Erwachsene („Adults Only“). In Graz führte kürzlich ein Vorfall zu einem Polizeieinsatz, als der Betreiber einer Cocktailbar zwei Familien mit Volksschulkindern aus seinem Schanigarten verwies. In sozialen Medien diskutieren vor allem Mütter über das Phänomen „Adultismus“ und damit auch die Diskriminierung von Familien im öffentlichen Raum. Ist Österreich ein besonders kinderfeindliches Land?

Es sind die ersten warmen Tage im April dieses Jahres, als Alexandra Heimlich mit ihrem Mann und den beiden Töchtern, zehn und acht Jahre alt, in Graz unterwegs ist. Das Ehepaar führt eine eigene Firma für Baumaterialien, die Töchter gehen zum Ballett- und Klavierunterricht, die Familie besucht gern gehobene Restaurants. An diesem Nachmittag sind sie wieder einmal beim beliebten Feinkostladen Frankowitsch in der Grazer Innenstadt. Während die Familie bei Brötchen und Kaffee beisammen sitzt, kommt sie mit einer Gruppe am Nebentisch ins Gespräch, die Geburtstag feiert und ebenfalls kleine Kinder hat. Als das Lokal um 18 Uhr schließt, beschließen sie, gemeinsam in den Gastgarten eines Nachbarlokals zu wechseln. Was hier geschieht, hatte keiner der Anwesenden erwartet.

Unerwünschte Gäste

„Ich glaube, der Kellner hat zuerst gar nicht bemerkt, dass wir mit Kindern da sind. Die Mädchen spielten in Sichtweite in der Fußgängerzone“, erzählt Alexandra Heimlich gegenüber der „Presse am Sonntag“. Als klar wird, dass die Kinder zu den Familien gehören, ändert sich das Verhalten des Personals. „Der Kellner forderte uns auf, das Lokal zu verlassen“, erinnert sich die 36-Jährige. „Kinder sind hier nicht erwünscht.“ Die Eltern verlangen, den Manager zu sprechen. Die Situation wird immer angespannter. Der Barbesitzer droht, die Polizei zu rufen. „Wir sollten sofort gehen, durften nicht einmal die Getränke austrinken“, so Heimlich. Wenige Minuten später fahren zwei Streifenwagen vor. Mehrere Beamte sprechen die Familien an. Es ist mittlerweile etwa 20 Uhr und der Barbesitzer argumentiert mit dem Jugendschutz, aber Alexandra Heimlich zweifelt daran. „Wir waren zwei Familien, die gut auf ihre Kinder aufpassen konnten. Er wollte einfach keine Kinder in seiner Bar“, erklärt sie sich die Geschehnisse. Doch es gelten das Hausrecht und der Wille des Lokalbesitzers. Die Gruppe verlässt das Lokal.

Die Wiener Journalistin und Autorin Evelyn Höllrigl („Mythos Mutterinstinkt“, Kösel-Verlag) bezeichnet solche Vorfälle als Adultismus, also Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen. Adultismus umfasst Verhaltensweisen, die Kindern das Gefühl geben, weniger wert oder unfähig zu sein. Dazu gehört auch das Ausgrenzen von Kindern im öffentlichen Raum. Anstoß für die Auseinandersetzung mit dem Thema gab Höllrigl ein persönliches Erlebnis. Im Dezember wollte ihre siebenjährige Tochter allein in der Bäckerei in ihrem Wohnhaus einen Laib Brot holen. Als sie nach zehn Minuten noch nicht zurück war, ging Höllrigl nachsehen. „Meine Tochter, die normalerweise sehr selbstbewusst ist, stand verloren in einer Ecke. Die Verkäuferinnen ignorierten sie und unterhielten sich gelangweilt, obwohl das Geschäft leer war“, erzählt Höllrigl. Das Kind hatte ein Brot bestellt, wusste aber nicht, welches. Anstatt zu helfen, wurde sie ignoriert. „Mich hat das Szenario verblüfft“, sagt Höllrigl. „Einer älteren Person würde man doch auch helfen.“

Höllrigl thematisierte das Problem später in den sozialen Medien. Der Zuspruch war enorm. In über zweihundert Kommentaren auf Instagram berichteten Mütter, wie sie oder ihre Kinder von wildfremden Menschen zurechtgewiesen wurden. „Eine Nachbarin meinte, unsere Kinder sollen auf dem Spielplatz spielen und nicht im Garten, weil sie zu laut sind“, schreibt eine Userin. Eine andere berichtet, dass sie im Park ermahnt wurde, ihr Kind solle die Spielgeräte benutzen und nicht auf einen Baum klettern. Diese scheinbaren Kleinigkeiten summieren sich zu einem Stimmungsbild: Kinder sind hier nicht erwünscht.

Österreichischer Grant

Darüber, ob das Thema spezifisch für Österreich ist, lässt sich streiten. Eine Studie der Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen aus dem Jahr 2013 befragte 11.000 Europäer ab 14 Jahren in zehn Ländern zur Kinderfreundlichkeit. Österreicher bewerteten ihr Land eher negativ. Nur 31 Prozent nahmen Österreich als „kinderfreundlich“ wahr. In Wien war es sogar nur jeder Fünfte. Schlusslicht war Deutschland. Auf den ersten Plätzen lagen Dänemark und Spanien. Hat es etwas mit der österreichischen Kultur zu tun?

Evelyn Höllrigl ist unsicher. „Ich habe in Deutschland, Italien und Österreich gelebt. Italien ist gefühlt kinderfreundlicher, aber da gibt es andere Probleme. Es hängt von den persönlichen Erfahrungen ab“, sagt sie. Sie sieht darin jedenfalls ein Problem für die ganze Gesellschaft: „Es ist ein Teufelskreis: Eltern mit Kindern wollen ‚nicht stören‘, und gehen dann nur noch in extra kinderfreundliche Lokale oder bleiben ganz zu Hause. Damit werden sie für die Gesellschaft immer unsichtbarer und jene Kinder, die dann ‚da‘ sind, fallen umso mehr auf, weil man es nicht gewohnt ist.“

Kinder wollen dazugehören

Am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen ist ein Grundrecht. Ähnlich sieht das auch Kinderpsychologin Simone Fröch. Wenn Kinder im öffentlichen Raum Anstoß erregen, sei aber nicht immer Diskriminierung am Werk. Kindern dürfen und sollen auch Grenzen gesetzt werden, so Fröch. „Aber wenn die Kritik extrem ist und vom Kind als vernichtend erlebt wird, kann das sein Selbstbild und sein Weltverständnis negativ beeinflussen. Das Kind lernt dann: ‚Ich darf keinen Fehler machen‘ oder ‚Die Welt ist gefährlich‘“.

Eltern rät sie, dem Kind in der Situation beizustehen: „Greift ein Passant das Kind willkürlich an, können Eltern etwa sagen: ‚Komisch, was hat diese Frau?‘ und dem Kind so vermitteln, dass es total in Ordnung ist, wenn es etwa in der Straßenbahn weint.“ Vor allem sollten schlechte Erfahrungen nicht zu Pauschalurteilen führen. „Eltern können in solchen Situationen den Blick des Kindes etwa auf jene Menschen lenken, die sich freundlich verhalten haben.“ Die Lösung des Problems sieht die Psychologin eher pragmatisch: „Gemeinschaft zu erleben und dazuzugehören ist für Eltern und Kinder essenziell wichtig — keine Frage. Manchmal ist es aber sinnvoller, Orte aufzusuchen, an denen sich Kinder ungehindert bewegen können.“

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