FEUER AM DACH: DARF DIE UKRAINE DEN KRIEG NACH RUSSLAND ZURüCKTRAGEN?

Wieder einmal gab es in der Nacht auf Mittwoch im russisch-ukrainischen Grenzgebiet Alarm. Diesmal betroffen: zwei Raffinerien im südrussischen Gebiet Krasnodar nahe dem Schwarzen Meer, etwa 200 Kilometer östlich der annektierten Halbinsel Krim. In einer der beiden Raffinieren brach Feuer aus. Zeitgleich gerieten Grenzdörfer im Gebiet Belgorod ins Visier von Artillerie, der lokale Gouverneur beschuldigte am Mittwoch die ukrainische Armee. Es waren nicht die ersten derartigen Vorfälle in den vergangenen Monaten. Erst tags zuvor meldeten die russischen Behörden die Zerstörung von insgesamt acht Drohnen über der Hauptstadt Moskau, betroffen war unter anderem die noble Rubljowo-Uspenskoje-Chaussee, in der auch Mitglieder des Regimes inklusive Präsident Wladimir Putin selbst residieren.

Doch steckt die Ukraine dahinter? Und könnte der Krieg dorthin zurückkehren, von wo aus er gestartet wurde, nämlich nach Russland selbst? DER STANDARD hat einige Antworten gesammelt.

Frage: Was spricht für eine ukrainische Urheberschaft der jüngsten Angriffe in Russland selbst?

Antwort: Bisher gibt es wenig mehr als Indizien. In Kiew üben sich Regierung und Propagandaabteilungen seit Monaten in einem rhetorischen Balanceakt aus Abwiegeln und Sarkasmus. Mit den Kämpfern, die in Belgorod zwei Tage lang russische Spezialkommandos, Grenzschützer und Soldaten beschäftigt hielten, habe man nichts zu tun; die Drohnen über Moskau seien eigentlich russisches Gerät, "das sich geweigert hat, ukrainische Zivilisten anzugreifen". Dass Kiews Inlandsgeheimdienst SBU hinter der Explosion auf der Krimbrücke vor sieben Monaten steckt, wurde von dessen Chef Wassyl Maljuk erst vergangene Woche eingeräumt. Die Raketen- und Drohnenangriffe auf einen russischen Militärflugplatz bei Nowofedoriwka auf der annektierten Krim hingegen gab Kiew im vergangenen Sommer rasch zu.

Bei den jüngsten Vorfällen in Moskau sei hingegen noch so gut wie nichts klar, sagt Thomas Jäger, Russland-Experte und Professor für Außenpolitik an der Universität Köln: "Wir wissen nicht, ob die Ukraine überhaupt über die geeigneten Instrumente für solche Angriffe verfügt. Zum anderen ist die Flugbahn all dieser Drohnen noch immer nicht bekannt." Am plausibelsten, so Jäger, sei die Urheberschaft proukrainischer Gruppen, "von wo aus auch immer".

Propagandistischen Nutzen zieht aus den Angriffen jedenfalls nicht Russland, sondern die Ukraine. Offiziell heißt es, man sei "nicht direkt involviert", beobachte die Ereignisse aber "mit Freude", wie es Mychailo Podoljak, ein prominenter Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, ausdrückt. Die New York Times berichtete vergangene Woche unter Berufung auf US-Geheimdienstkreise, dass die Ukraine hinter dem Angriff auf den Kreml stehe – Selenskyj selbst hatte dies zuvor bestritten.

Frage: Welchen Zweck verfolgten derartige Einsätze?

Antwort: Das hängt tatsächlich davon ab, welches konkrete Ziel anvisiert wird. "Teils erfüllen die Angriffe militärische Zwecke, etwa, wenn Infrastruktur getroffen wird, Züge zum Entgleisen gebracht werden oder Benzin- und Dieseldepots in Brand geschossen werden", sagt Jäger. "Andere Angriffe haben eher einen psychologischen Zweck, zielen also auf die öffentliche Meinung in Russland ab." Jäger sieht einen klaren Zusammenhang mit der angekündigten ukrainischen Gegenoffensive – sogenannte "Shaping Operations" testen die gegnerische Abwehr und bereiten in jedem Krieg den Boden für Offensiven.

Frage: Droht der Ukrainekrieg nun tatsächlich in das Land des Angreifers, also Russland, zurückzuschwappen?

Antwort: Dafür gibt es derzeit so gut wie keine Anzeichen. Würden sich die Angriffe intensivieren, drohten der Ukraine schließlich ihre lebenswichtigen Unterstützer im Westen abhandenzukommen, allen voran die USA. "Dass es einzelne Aktionen gibt, wird man in den USA wohl weiter tolerieren, große Angriffe auf russisches Gebiet aber nicht", glaubt Jäger.

Frage: Abseits moralischer Kategorien: Dürfte die Ukraine völkerrechtlich mit Angriffen auf russisches Gebiet zurückschlagen?

Antwort: "Ja", sagt der Wiener Völkerrechtler Ralph Janik: "In einem Krieg ist das gesamte Staatsgebiet der beteiligten Länder rechtlich legitimes Angriffsziel. Es gelten natürlich die Grundsätze, dass man keine zivilen Ziele angreifen darf, und es gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Außerdem dürfen keine Waffen eingesetzt werden, die unnötiges Leid verursachen." Militärische Ziele hingegen müssten auch keinen unmittelbaren Konnex zu dem Krieg haben – so wäre es etwa rechtlich gesehen legitim, wenn die Ukraine eine Kaserne im Ural oder im Fernen Osten Russland angreifen würde. Sowohl die britische als auch die deutsche Regierung erklärten am Mittwoch, dass sie ukrainische Angriffe auf russisches Gebiet als "legitim" betrachteten.

Frage: Und ein Angriff auf Präsident Wladimir Putin selbst? 

Antwort: "Rein rechtlich ist Putin aufgrund seiner verfassungsrechtlichen und faktischen Stellung ein Angriffsziel nach dem humanitären Völkerrecht", sagt Janik und fügt an: "Im Übrigen ist nach demselben Recht auch der ukrainische Präsident Selenskyj theoretisch ein solches Ziel, weil auch seine Rolle, was den Krieg betrifft, wie in sehr vielen anderen Staaten über eine symbolische Funktion hinausgeht." 

Frage: Wie reagiert der größte Waffenlieferant der Ukraine, die USA?

Antwort: Offiziell gibt man sich nicht eben amüsiert. Wurden mutmaßlich ukrainische Angriffe auf militärische Infrastruktur im russischen Hinterland bisher noch weitgehend schweigend hingenommen, sieht die Sache bei den jüngsten Drohnenvorfällen in Moskau schon anders aus. Wie auch die anderen Waffenhelfer Kiews im Westen verbitten sich die USA den Einsatz der von Washington zur Verfügung gestellten Waffen in Russland selbst – als zu groß wird die Gefahr angesehen, direkter als nötig in den Krieg verwickelt zu werden. Karine Jean-Pierre, die Pressesprecherin des Weißen Hauses, stellte am Mittwoch unmissverständlich die US-Linie gegenüber der Ukraine klar: "Wir unterstützen keine Angriffe innerhalb Russlands. Punkt." Aus der US-Regierung heißt es, die Ukraine habe wiederholt zugesagt, keine US-Waffen für Angriffe auf russischem Boden einzusetzen. Noch in dieser Woche dürfte das Weiße Haus ein weiteres Militärhilfepaket für die Ukraine auf den Weg bringen – mit dabei: Munition für Drohnen. Hinweise darauf, dass bei den beiden Vorfällen in Moskau Drohnen made in USA losgeschickt worden, gibt es bisher nicht. Mindestens eines der unbemannten Fluggeräte dürfte eine Drohne des Typs UJ-22 gewesen sein, Reichweite bis zu 800 Kilometer, gebaut in der Ukraine. 

Frage: Neben dem brutalen Krieg, den Russland entfesselt hat, tobt in der Ukraine auch ein Informationskrieg. Worum geht es da?

Antwort: "Sowohl im Informationskrieg als auch auf dem Schlachtfeld hat die ukrainische Führung verdeutlicht, dass sie den Krieg gewinnen kann", sagt Russland-Experte Jäger. Und andererseits: "Nur weil Russland die weitere Landnahme verwehrt wird, bedeutet das nicht, dass Russland an sich von außen in Gefahr ist, wie es aus Moskau immer heißt." Die spektakulären Drohnenangriffe dienten auch dem Zweck, der eigenen Bevölkerung zu verdeutlichen, dass sich die entbehrungsreichen Wintermonate gelohnt hätten. Und gegenüber den weitgehend passiven Russinnen und Russen sende Kiew das Signal aus, dass der angeblich so starke Mann im Kreml sie nicht schützen könne. "Bisher war es so, dass die russische Bevölkerung den Krieg akzeptiert, solange sie nichts davon mitkriegt." Die Angriffe auf Moskau und zuvor auf die Grenzregion Belgorod haben diese Erzählung nachhaltig zerstört. Jäger ortet aber noch einen weiteren Aspekt – einen, der viel mit dem richtigen Timing zu tun hat: "Seit diesen Angriffen ist die ukrainische Niederlage in Bachmut kein Thema mehr."

Frage: Könnten die Drohnenangriffe auf Moskau auch eine False-Flag-Aktion, also von Russland selbst geplant worden sein?

Antwort: Glaubt man Jäger, ist dieser Ansatz wenig zielführend. Schließlich habe der Kreml die Angriffe bisher nicht propagandistisch ausgeschlachtet. "Russland hatte möglicherweise ein Interesse am ersten Drohnenangriff auf Moskau, jenem, der das Dach des Kreml getroffen hat. Danach hätte man unter dem Hinweis, direkt angegriffen zu werden, etwa eine erneute Mobilmachung verkünden können. Das ist nicht passiert, im Gegenteil, Putin steht ziemlich blamiert da." Allerdings, so der Professor, gebe es inzwischen auch innerhalb Russlands Fraktionen, die miteinander konkurrieren, etwa die Söldnerbande Wagner, die Armee, die Privattruppen des Gaskonzerns Gazprom, Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow und die proukrainischen Freischärler – und denen seien solche Angriffe im eigenen Land ebenfalls zuzutrauen. "Die russische Elite steht schließlich unter enormem Stress, weil der Krieg für Russland in jeder Hinsicht katastrophal verläuft." Die Verhängung des Kriegsrecht, das etwa Kadyrow fordert und das dem Regime ein noch härteres Vorgehen im eigenen Land erlauben würde, schloss Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Mittwoch jedenfalls vorerst aus. 

Frage: Und wie reagiert die russische Bevölkerung bisher auf die Vorfälle?

Antwort: Im Alltag in Moskau ist nur wenig Angst zu spüren, erzählt STANDARD-Korrespondent Jo Angerer. Schließlich seien die Schäden durch die Drohnen nur gering gewesen, die russische Luftabwehr habe funktioniert, sagen viele in Moskau. Am Dienstag noch schreckten die Bilder auf Telegram-Kanälen und anderen Online-Medien viele in der Hauptstadt auf. Nicht wenige denken auch wie Alexander Chinstein, Duma-Abgeordnete der Kreml-Partei Geeintes Russland. Es sei "eine neue Realität, die begriffen werden muss". Auszugehen ist davon, dass die Zustimmung zu Putins "Spezialoperation" eher zunehmen wird. (Florian Niederndorfer, 31.5.2023)

Weiterlesen:Was über die Drohnenangriffe auf Moskau bisher bekannt ist

2023-05-31T16:30:08Z dg43tfdfdgfd